Der alte Mercedes stoppt, die Tür geht auf. Und dann passiert: nichts. Erst mal sammeln. Rechter Fuß raus, linker Fuß raus, Gehstock auf den Asphalt. Anschließend mit aller Kraft irgendwie aus dem Sitz hochziehen.
Karl-Heinz Schulz, 93 Jahre alt, ächzt ein wenig ob der Anstrengung. Seit drei Wochen geht das schon so. Tür auf, Karl-Heinz raus, Sehenswürdigkeit würdigen, Karl-Heinz wieder rein. Und weiter.
5000 Kilometer durch Europa
▶︎5000 Kilometer sind Karl-Heinz, den alle Carlos nennen, und sein Nachbar Torben (20) quer durch Europa getingelt. Der alte Mann wollte ans Meer. Einmal noch im Leben eine Reise machen.
Karl-Heinz Schulz ist früher erfolgreicher Autohändler gewesen. Er fuhr Sportwagen, liebte das Leben und die Frauen. Seine zweite Frau starb im September, eigentlich wollte er die Reise mit ihr machen. Also fasste sich Torben ein Herz – machte sein 1992er Mercedes Coupé flott, packte für beide die Koffer.
„Ich fahre, er erzählt von früher“
Die beiden kennen sich seit 2016. Es fing damit an, dass Torben bei Carlos den Rasen mähte. Seitdem guckt er jeden Tag nach dem alten Mann. Und hilft ihm im Alltag.
Als Carlos fragte, musste er nicht lange überlegen: „Ich sehe es als meine Aufgabe, ihm zu helfen. Ich fahre und er erzählt von früher.“
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Dann war der große Tag da. Die Reise begann. Von Emmerich, wo sie wohnen, nach Versailles. Am nächsten Tag weiter in das Dorf, in dem Carlos „nach ’m Kriech“, wie er sagt, als Gefangener in den Weinbergen arbeiten musste.
Als sie ihn zum Minenräumen in die Pyrenäen abkommandieren wollten, ging er stiften – und floh nach Spanien. Drei Jahre blieb er dort, lernte die Sprache, bekam seinen Spitznamen.
Ein Roadtrip, von dem Männer träumen
Also fuhren sie auch dorthin, nach San Sebastián. Carlos immer mit Gehstock oder Rollator. Bei schönem Wetter holte ihm Torben eine kurze Hose aus dem Koffer. Ein Roadtrip, von dem Männer träumen. Zu zweit unterwegs, die Fenster runter, der warme Fahrtwind im Gesicht. Radio machten sie selten an, Carlos hatte viel zu erzählen, und oft schlief er.
Abends tranken sie Wein und aßen, was die Speisekarte hergab. In den Hotels teilten sie sich ein Zimmer mit Einzelbetten. Zweimal fiel Carlos heraus, einmal konnte ihn Torben gerade noch auffangen – mit einem Hechtsprung.
Am Steuer saß immer Torben. Carlos ist zwar noch im Besitz seines Führerscheins, Jahrgang 1952. Aber das Fahren hat er aufgegeben.
Torben dokumentierte alles mit seinem Smartphone. Carlos vorm Mailänder Dom. Carlos vorm Straßenschild. Carlos am Strand. Manchmal schien sich der alte, gebeugte Mann zu erinnern: „Hier habe ich damals gebadet“, sagte er dann.
Neun Länder, ein 24erFilm voll
Mit einem Hotelier palaverte er fließend auf Spanisch. In manchen Städten schlurfte er fünf Kilometer durch die Gassen. Einmal putzte sich Carlos morgens die Zähne mit Schmerzgel. Egal, alles ging gut aus.
Neun Länder schafften sie: Holland, Belgien, Frankreich, Spanien, Monaco, die Schweiz, Italien, Österreich – und Deutschland.
Auch Karl-Heinz Schulz hatte seinen Fotoapparat dabei. Am Ende war der 24er-Film voll.
Der letzte Stopp: Bremerhaven. Dort ist Carlos am 31. Dezember 1951 auf einem Frachtschiff nach seiner ersten, unfreiwilligen Europa-Tour (vier Schussverletzungen) wieder angekommen.
„Wann kommste mich mal in Emmerich besuchen?“, fragt Carlos am Ende den Reporter. „Das hat er die spanischen Kellnerinnen auch ständig gefragt“, sagt Torben. Dann stoßen die beiden mit einem Riesling an und lachen.
August 30, 2020 at 03:02PM
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Reise durch Europa: Der alte Mann, der Junge und das Meer - BILD
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