Helena Wittmanns Stimmungsfilm „Drift“ schickt das Publikum auf Traumreise über hypnotisch mutierende Leinwandgewässer.
Ozeanische Gefühle, wie sie schon Sigmund Freud Unbehagen bereiteten, sind das Um und Auf vieler großer Kinomomente: die Auflösung klarer ästhetischer Konturen, unbändige Eindrücke der (emotionalen) Entgrenzung. Der Weg zur Ekstase führt dabei oft über das Wasser. Wie in „Titanic“, wo der Bugblick auf den Atlantik den Helden zum jauchzenden „König der Welt“ erhebt. Oder in der Experimentaldoku „Leviathan“, wo die Kamera vom Fischkutter aus in wurlende Fluten taucht.
Auch „Drift“, das bemerkenswerte Langfilmdebüt der deutschen Laufbildkünstlerin Helena Wittmann, ist so ein Wasserwerk, das nicht bloß die Füße im Becken befeuchtet, sondern kopfüber hineinspringt. Beziehungsweise hineingleitet: Über kurz oder lang beginnt hier alles zu (zer-)fließen.
Anfangs erwartet man noch ein sprödes Alltagsdrama: Zwei Frauen (Freundinnen? Liebende?) im Urlaub an der Nordsee, ereignisloses Beisammensein, Annäherung und Entfernung. Doch schon hier wallen Wellenaufnahmen ins Bild, erodieren den Mörtel der Erzählung, lassen ein loses Szenenmosaik zurück. Die Frauen treiben auseinander, eine in ihre südamerikanische Heimat, die andere vom industriell durchwirkten Hamburg aus in die Karibik, wo sie irgendwann allein einschifft, um abzuschalten.
Von nun an übernimmt das Meer das Steuer. Während die Reisende unter Deck dahindöst, wendet sich „Drift“ dem Seegang zu, versenkt sich in dessen rumorenden Rhythmen. Der Kamerablick wiegt sich sanft auf den Wogen, labt sich an wechselnden Blautönen, am hypnotischen Strom permanenter Bewegung. Langsam schält sich ein wabernder Ton aus dem Rauschen, schließlich ein brummendes Dröhnen.
Die Zeit wird Unendlichkeit
Dann ist das Wasser tintenschwarz und finster schimmernd wie Obsidian, der Himmel dunkel und bedrohlich bewölkt. Die Zeit schmilzt aus den Angeln, wird unheimliche Unendlichkeit, ein schwerfällig tosender Traum. Auf einmal Nebel, Tiere, Windlandschaft: Man wähnt sich auf einem fremden Planeten. Und landet schließlich wieder in der Normalität – nur eine Postkarte bleibt als Erinnerung. „Drift“ ist Stimmungsmalerei par excellence, auf (bzw. in) dessen gemächlichen Wahrnehmungsstrudel man sich einlassen muss, am besten im Saal vor der Leinwand: Nur dort können Wittmanns mäandernde Bild- und Klangwelten zur vollen Entfaltung gelangen. Die 37-Jährige, die in Hamburg bei der Ausnahmeregisseurin Angela Schanelec studiert hat, zeichnet hier neben Regie auch für Schnitt und Kameraführung verantwortlich. Und sucht eine Brücke zu schlagen zwischen Filmformen, die zu oft getrennt gedacht werden. Am Ende steht dementsprechend eine Anspielung auf einen Klassiker der Kinoavantgarde: Michaels Snows Endloszoom „Wavelength“.
Le Studio: Wien 9, Liechtensteinstr. 37, ab 31. 7., 19 Uhr.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.07.2020)
July 31, 2020 at 12:58AM
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„Drift“: In diesem Film übernimmt das Meer das Steuer - Die Presse
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das Meer
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